Blog
Blog
17. März 2021

10 Jahre nach Fukushima: So reagierte die Schweiz auf den Super-GAU

Der Atomunfall in Fukushima am 11. März 2011 war für den Bundesrat ausschlaggebend, um aus der Kernenergie auszusteigen. Im heutigen Blog blickt Discuss it zurück auf den Unfall und seine Folgen. Was bedeutet der Atomausstieg für die Schweiz? Welche Herausforderungen stellen sich dabei? Und warum sind die Kernkraftwerke noch nicht abgeschaltet?

Es ist die Chronik einer Katastrophe: Man schreibt den 11. März 2011, als weit vor der Küste Japans ein mächtiges Seebeben registriert wird. Mächtig genug, um einen Tsunami auszulösen. Bloss zwanzig Minuten brauchen die bis zu 30 Meter hohen Wellen, um die japanische Küste zu erreichen. 18’500 Menschen kommen in den Fluten ums Leben. Doch damit nicht genug: Fatalerweise steht auch das Kernkraftwerk Fukushima in der vom Tsunami betroffenen Zone – und die weitere Katastrophe nimmt ihren Lauf.

Mehrere Reaktoren werden geflutet, die Stromversorgung und damit die Kühlung der Brennstäbe fallen aus. Aufgrund der zunehmenden Gefahr eines atomaren Unfalls werden 160’000 Menschen evakuiert. Und dann geschieht innert weniger Tage das, was viele in einem hochtechnologisierten Land wie Japan nicht für möglich gehalten hätten: Es kommt zu einer Kernschmelze und zum Super-GAU – dem «grösstmöglich anzunehmenden Unfall». Der schlimmste Atomunfall seit dem Reaktorunglück in Tschernobyl im Jahre 1987 ist Tatsache. Und die Gefahr ist auch heute noch nicht vollständig gebannt. Tonnen von radioaktiv verstrahltem Abwasser müssen entsorgt werden. Neuen Plänen der japanischen Regierung zufolge soll dieses gefiltert und anschliessend ins Meer abgeleitet werden.

Im Anschluss an die Katastrophe fragten sich viele, wie es überhaupt dazu kommen konnte. Nachfolgende Untersuchungen fanden heraus, dass ungenügende Kontrollen und Mängel in der Sicherheit von der Fukushima-Betreiberfirma Tepco unter den Teppich gekehrt wurden. Doch auch die Internationale Atomenergieagentur (IAEA), welche die nukleare Sicherheit weltweit kontrollieren soll, geriet in die Kritik. Es drängte sich die Frage auf: Wie sicher kann Atomenergie überhaupt sein?

Atomenergie in China und Indien auf dem Vormarsch

Obwohl diese grundsätzliche Frage im Nachgang von Fukushima oft gestellt wurde, hatte der Super-GAU ausserhalb von Europa keinen grossen Einfluss. Länder wie China und Indien, deren Energiebedarf in den letzten Jahren stark gestiegen ist und noch steigen wird, setzen gar vermehrt auf nukleare Energie.
Nicht so die traditionell atomfreundliche Schweiz. Schon mehrmals war ein Atom-Ausstieg an der Urne abgelehnt worden, doch die Katastrophe von Fukushima führte zu einer 180-Grad-Kehrtwende in der Energiepolitik. Während im März 2011 noch mehrere neue Kernkraftwerke (KKW) in Planung waren, beschloss der Bundesrat weniger als drei Monate später den Ausstieg der Schweiz aus der Atomenergie. Der Entscheid ist Teil der Energiestrategie 2050. Diese wurde am 21. Mai 2017 von 58.2% der Stimmbevölkerung angenommen. Konkret bedeutet das: Es dürfen keine neuen KKW mehr gebaut werden, doch die bestehenden KKW bleiben so lange am Netz, wie sie das Eidgenössische Nuklearsicherheits-Inspektorat (ENSI) als sicher einstuft.

Ein Drittel unseres Stroms kommt aus Kernenergie

Im Dezember 2019 wurde mit dem KKW Mühleberg das erste der fünf Schweizer Atomkraftwerke stillgelegt. Seither ist der aufwendige und teure Rückbau im Gange. Es verbleiben mit den KKW Beznau 1 und 2, Leibstadt und Gösgen vier weitere Kraftwerke am Netz. Zusammen liefern sie rund einen Drittel der schweizweit produzierten Elektrizität (Stand 2019). Die Betriebsdauer der KKW ist, sofern sie vom ENSI als sicher eingestuft werden, theoretisch unbefristet. In der Praxis bleiben die KKW aber nur am Netz, solange sich der Betrieb wirtschaftlich auch lohnt. Die Kostenfrage ist dabei entscheidend: Um einen sicheren Betrieb zu gewährleisten, müssen die KKW ständig ausgebessert werden. Dies ist mit horrenden Kosten verbunden – und mitverantwortlich dafür, dass die Kernenergie unter dem Strich sehr teuer ist.

Es bleibt also unklar, wann die KKW abgeschaltet werden. Wir wissen nicht, ab wann wir uns nicht mehr auf diese Stromquelle verlassen können, die doch einen bedeutenden Teil der inländischen Produktion ausmacht. Wie können wir die Atomenergie dereinst ersetzen? Mit erneuerbaren Energien, lautet die in der Energiestrategie 2050 festgelegte Antwort. Wind-, Sonnen- und Wasserenergie sollen nach und nach die wegfallende Atomenergie kompensieren.

Atomenergie-Ersatz ist nicht immer «grüner»

So will die Schweiz den energiepolitischen Spagat schaffen: Ausstieg aus der Kernenergie, aber ohne dabei auf Energieformen mit höherem CO₂-Ausstoss auszuweichen. Denn der grosse Vorteil der Kernenergie ist, dass sie eine effiziente Energiegewinnung bietet – und mit vergleichsweise tiefen CO₂-Emissionen verbunden ist. Dieser Fakt stellt nicht nur die Schweiz, sondern auch unsere Nachbarländer vor ein Dilemma. Deutschland etwa hat beschlossen, dass alle KKW bis 2022 abgeschaltet sein müssen. Das Problem ist jedoch, dass in Deutschland die Kernenergie durch Importe und Kohlenenergie ersetzt wird. Diese Energie ist mit einem massiv höheren CO₂-Ausstoss verbunden, und auch der importierte Strom ist nicht grüner: Der Grossteil kommt aus fossilen Energieträgern oder ebenfalls aus Kernenergie. Dies mutet reichlich ironisch an – und entspricht wohl kaum dem Ziel der deutschen Energiewende.

Wohin mit den radioaktiven Abfällen?

Doch zurück in die Schweiz. Zwar steht unser Land in Bezug auf die Versorgungssicherheit nach dem Atomausstieg besser da als Deutschland, doch auch wir haben noch viele Herausforderungen zu bewältigen. Die wohl grösste ist das nach wie vor ungelöste Problem der Endlagerung der Atom-Abfälle. Dabei geht es um eine beträchtliche Menge: Mit dem radioaktiven Müll der Schweiz könnte man die gesamte Bahnhofshalle des Zürcher Hauptbahnhofs füllen, wie das SRF-Wissenschaftsmagazin «Einstein» errechnet hat. Bis der radioaktive Abfall keine schädliche Strahlung mehr abgibt, dauert es mehrere hunderttausend Jahre.

Schon seit 1972 beschäftigt sich die Nagra, Nationale Genossenschaft für die Lagerung radioaktiver Abfälle, mit einer nachhaltigen Lösung für die Endlagerung des atomaren Mülls – mit wenig Erfolg. Der ursprüngliche Plan sah vor, dass ab 1990 ein erstes Endlager in Betrieb genommen werden sollte. Heute, Jahrzehnte später, liegt dieses Ziel noch immer in weiter Ferne. Laut aktuellem Plan soll das erste Endlager erst in 40 Jahren bereitstehen.

Das Vorgehen und die Planung der Nagra rufen denn auch viel Kritik hervor. Etwa vom Geologen Markus Buser, einem der renommiertesten Schweizer Atom-Experten. Er sagt gegenüber «Einstein»: «Die Zeitprognosen der Nagra waren schon immer viel zu optimistisch.» Das gebe ein schlechtes Gefühl für die Zukunft. Buser rechnet mit weiteren Verzögerungen. Markus Fritschi, Mitglied der Nagra-Geschäftsleitung, widerspricht: «Heute sind wir in der Lage, dass wir ein Endlagerungs-Projekt realisieren können.» Die Ausgangslage sei ganz anders als noch in den 1980er-Jahren. Deshalb glaubt Fritschi, dass der aktuelle Zeitplan eingehalten werden kann.

Endlagerung wird sehr teuer

Trotz Optimismus vonseiten der Nagra ist bis heute noch nicht einmal der Standort des künftigen Atommüll-Endlagers bekannt. Ganz zu schweigen von den Kosten, welche die Atom-Endlagerung mit sich bringen wird. Aktuell wird der Betrag auf 3 Milliarden Franken geschätzt. Doch ob dieser Betrag tatsächlich ausreicht, ist ungewiss.

Es bleibt also das Fazit: Die Schweiz hat nach Fukushima beschlossen, dass die Atomenergie hier keine Zukunft mehr haben soll. Dafür, so haben dies die Politik und das Stimmvolk bei der Abstimmung zur Energiestrategie 2050 entschieden, ist ihr Preis zu hoch; sowohl in Bezug auf die noch nicht abschätzbaren Kosten, als auch auf das Erbe, das wir mit den radioaktiven Abfällen hinterlassen. Doch die Schweizer Ausstiegs-Strategie ist pragmatisch: Die bestehenden KKW sind nun mal da, also können wir sie ebenso gut noch nutzen, bis wir verfügbare Alternativen haben. Insbesondere auch, da Kernkraft eigentlich wenig CO₂ ausstösst und diesbezüglich gewissen alternativen Energiequellen vorzuziehen wäre. Um abschliessend Bilanz zu ziehen, ist es noch zu früh: Die Nachwehen der Atom-Ära werden uns noch lange begleiten.

Was meinst du zur Schweizer Atomausstiegs-Strategie? Wir freuen uns über deine Antwort in der Kommentarspalte.

Erstellt von Ann-Kathrin Amstutz